Ein Himmel voller Kräuter (Teil 1)
Öffnet sich die Tür der hübschen Kirche am Marktplatz von Bingen-Gaulsheim, eröffnet sich dem Besucher ein berührendes Erlebnis… rund 50 Pflanzenportraits sind in das Deckengewölbe gemalt – dort, wo sonst eher Engel ihren Platz haben. Vielleicht kam Hildegard hier entlang, liegt Gaulsheim doch direkt an der Wegstrecke von Bingen nach Mainz, nahe an den Rheinauen. Zumindest stammt der Turm der Kirche St. Pankratius und Sankt Bonifatius noch aus dem 12. Jahrhundert. Die Kräuter-Kirche in ihrem ansonsten neogotischen Stil wurde jedoch erst 1899 neu erbaut – und in den 1970er Jahren auf Beschluss des damaligen Ortspfarrers Hans Laik und dem Pfarrgemeinderat mit Pflanzen aus der Region bemalt. Damit griffen sie die Tradition des Kräuterstraußes auf, auch „Würzwisch“ genannt, der in vielen Regionen zum Hochfest Mariä Himmelfahrt am 15. August gesammelt und geweiht wird.
Diesen Brauch haben die Menschen schon weit vor der christlichen Zeit gepflegt, dienten die Kräuter ihnen doch als Hausapotheke, zum Räuchern, als Schutzsymbol, berichtet Jan Frerichs, während er die Teilnehmer*innen des Hildegard-Gesprächskreises Rheinhessen-Nahe und weitere Interessierte Anfang Juni 2022 durch die Kirche führt. „Während sich die „große Tradition“ – mit den Regierenden und in Glaubensfragen – über die Jahrhunderte wandelte, blieb die „kleine Tradition“ beständig: Wissende – meist Frauen – kümmer(te)n sich mit den Kräutern um das Wohlergehen ihrer Familie und der Dorfgemeinschaft. Die Königskerze bildet meist prominent die Mitte eines Kräuterstraußes, drumherum weitere Kräuter, die man für nutzvoll erachtet hat und in seiner Umgebung fand. Häufig waren es sieben, neun oder 12, angelehnt an heilige Zahlen.“
Hier in der Kirche ist die Königskerze auch in der Mitte zu finden. Ihr volkstümlicher Name „Himmelsbrand“ gehe auf Marienbilder aus dem 5 Jahrhundert sowie aus dem Hohelied zurück: Maria wird als „guter und heiliger Acker“ gesehen. Außerdem als die „Blume des Feldes und Lilie in den Tälern“ , die mit dem Himmelsbrand als Zepter in ihrer Hand über das Land zieht – sodass die Hitze des Sommers das Getreide und die Früchte reifen lässt.
(weiter in Teil 2)